Die unsichtbare Last: Leben mit Heimwehkrankheiten
Sepideh* kam 2014 aus dem Iran nach Deutschland. Sie schreibt darüber, wie es sich anfühlen kann, als geflüchtete Person in einem anderen Land zu leben:
Die unsichtbare Last: Leben mit Heimwehkrankheiten
Es gibt Millionen Menschen auf der Welt, die mit unerklärlichen körperlichen und psychischen Symptomen leben. Sie suchen verzweifelt nach Antworten, besuchen Ärzte, machen Tests – doch die Medizin bleibt oft ratlos. Ihre Symptome scheinen keine erkennbare Ursache zu haben. Doch was passiert, wenn die Antwort nicht in einem Labor oder auf einem Bild liegt, sondern tief in der Seele verwurzelt ist?
Ich möchte meine Geschichte teilen. Vor elf Jahren kam ich nach Deutschland, als Flüchtling, auf der Suche nach Sicherheit und einem neuen Leben. Doch die Flucht hinterlässt Spuren – sichtbare und unsichtbare. Seit meiner Ankunft leide ich unter Symptomen, die mein Leben geprägt haben: ständige Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, eine unermüdliche Erschöpfung, grundlose Unruhe und Reizbarkeit. Hinzu kommen allergieähnliche Symptome, die scheinbar ohne Grund auftauchen.
Ich bin von Arzt zu Arzt gegangen, habe Tests und Untersuchungen über mich ergehen lassen. Blutproben, Allergietests, neurologische Abklärungen – alles ohne Ergebnis. "Es gibt keine medizinische Ursache," hörte ich immer wieder. Und doch blieb der Schmerz, die Erschöpfung, die Unruhe.
Erst vor Kurzem fand ich eine Antwort: "Heimwehkrankheiten". Ein Begriff, der zunächst harmlos klingt, fast romantisch. Doch für Menschen wie mich beschreibt er eine tiefe, existenzielle Leere. Flucht und Vertreibung reißen einen aus der Heimat, dem Ort, der Identität gibt und wo man sich zu Hause fühlt. Zurück bleibt eine Leere, die schwer zu füllen ist. Man fragt sich: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich ohne meine Heimat? Diese Fragen nagen an einem, oft unbewusst, und manifestieren sich in körperlichen und psychischen Symptomen.
Manchmal fühlt man sich wie eine Pusteblume, die vom Wind hin und her geschaukelt wird. Ohne Halt, ohne Wurzeln, voller Angst, dass man für immer wurzellos in der Luft bleiben wird. Besonders für Menschen in Ankunftsgesellschaften, die Rassismus und Diskriminierung erfahren, ist diese Wurzel- und Orientierungslosigkeit oft besonders quälend. Diese Erfahrungen verstärken die innere Leere und wirken noch tiefer auf Psyche und Körper. Sie vermitteln das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, nirgends willkommen zu sein.
Diese innere Leere kann sich weiter verschärfen, wenn Menschen das Gefühl haben, auch in ihrer eigenen Community keinen Platz zu finden. Viele Geflüchtete entfernen sich bewusst von ihren ursprünglichen Gemeinschaften, vor allem wenn diese stark patriarchalisch oder religiös geprägt sind. Solche Communities können, so sehr sie Sicherheit und Vertrautheit bieten, auch durch Gewalt, Kontrolle oder Ausgrenzung belasten. Die Angst vor Gewalt oder schmerzhaften Erfahrungen führt oft dazu, dass man sich von der eigenen Herkunftsgemeinschaft distanziert. Doch diese Distanzierung hinterlässt eine doppelte Leere: Man verliert nicht nur die alte Heimat, sondern auch den Rückhalt, den eine vertraute Umgebung bieten könnte. Das Gefühl, nirgendwo wirklich hinzugehören, wird dadurch umso stärker.
Inmitten dieser komplexen Gefühle und Erfahrungen habe ich erkannt, dass Heimat mehr ist als ein geografischer Ort. Lange Zeit dachte ich, ich sei eine Bürgerin der Welt – dass ich überall dazugehören könnte, dass die Heimat ein Konzept sei, das ich mit Nationalismus verband und von dem ich mich lösen wollte. Doch die Entfernung von meiner Heimat und von meinen geliebten Menschen hat mich gelehrt, wie tief solche Verluste in die Seele schneiden können.
Für mich ist Heimat nicht nur der Ort, sondern vor allem die Menschen, die mich akzeptieren, respektieren und anerkennen, so wie ich bin – unabhängig von meinem Geschlecht, meiner Nation, meiner Religion oder meiner Weltanschauung. Heimat ist der Raum, in dem ich mich selbst sein kann, ohne Angst vor Ablehnung oder Gewalt. Es ist die Wärme einer Gemeinschaft, die auf Menschlichkeit basiert, nicht auf Grenzen oder Definitionen.
Doch selbst in dieser Dunkelheit gibt es Hoffnung. Es gibt Wege, wieder Halt zu finden, auch wenn die alte Heimat unerreichbar scheint. Neue Wurzeln zu schlagen bedeutet nicht, die Vergangenheit zu vergessen, sondern sie in die Gegenwart zu integrieren. Es bedeutet, kleine Schritte zu gehen: Gemeinschaften zu suchen, die offen sind, neue Freundschaften aufzubauen, die eigene Geschichte zu teilen und sich selbst die Zeit zu geben, anzukommen.
Ein bedeutender Schritt ist die Selbstakzeptanz. Zu erkennen, dass die Symptome kein Zeichen von Schwäche sind, sondern ein Ausdruck des tiefen Verlusts, den man erlebt hat. Psychologische Unterstützung und Therapie können helfen, die Wunden der Seele zu heilen. Ebenso wichtig ist es, gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die Geflüchteten das Gefühl geben, willkommen zu sein. Empathie, Offenheit und der Kampf gegen Rassismus sind der Schlüssel, um diese unsichtbare Last zu lindern.
Ich denke oft an die Worte eines Freundes, der selbst Flüchtling ist. Er sagte: "Die Heimat ist nicht nur ein Ort. Sie ist ein Gefühl, das wir in uns selbst tragen können." Diese Worte tragen mich durch schwierige Tage. Vielleicht können sie auch Ihnen helfen, falls Sie sich in meiner Geschichte wiedererkennen.
Heimweh ist nicht nur Sehnsucht nach einem Ort. Es ist ein Gefühl des Verlusts, der Orientierungslosigkeit. Für Flüchtlinge ist es oft noch komplizierter. Viele können nicht zurückkehren, weil die Heimat zerstört, unsicher oder unerreichbar ist. Sie sind gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ohne festen Boden unter den Füßen.
Die Gesellschaft spricht selten über diese Form von Leiden. Doch Heimwehkrankheiten sind real. Sie betreffen nicht nur Menschen wie mich, sondern Millionen von Geflüchteten, Migranten und all jene, die entwurzelt wurden. Es sind stille Leiden, die oft nicht ernst genommen werden, weil sie schwer zu greifen sind. Doch sie sind da, und sie beeinträchtigen das Leben.
Es ist an der Zeit, dass wir mehr Bewusstsein für diese unsichtbare Last schaffen. Dass Ärzte und Therapeuten die tiefe Verbindung zwischen Seele und Körper anerkennen. Dass die Gesellschaft versteht, wie wichtig es ist, Geflüchteten nicht nur ein Dach über dem Kopf zu geben, sondern auch emotionale und psychologische Unterstützung.
Heimwehkrankheiten zeigen uns, wie tiefgreifend der Verlust von Heimat sein kann. Aber sie zeigen uns auch, wie dringend wir Gemeinschaft und Verständnis brauchen. Nur durch Mitgefühl und gegenseitige Unterstützung können wir diese Leere füllen. Es ist ein langer Weg, aber nicht einer, den wir allein gehen müssen. Und vielleicht, nur vielleicht, können wir auf diesem Weg etwas Neues finden: ein Gefühl der Heimat, das wir in uns selbst tragen.
*Name geändert