[Offener Brief] Aufnahme- und Bleiberechtsregelungen von Afghan*innen in Sachsen-Anhalt

Bereits mehrmals haben wir uns in den vergangenen Monaten an das Innenministerium Sachsen-Anhalts gewendet, um unsere Forderungen bezüglich der Situation afghanischer Menschen in Deutschland und speziell Sachsen-Anhalt zu verdeutlichen.

Angesicht der baldigen Innenminister*innenkonferenz möchten wir uns erneut für verbesserte Bleiberechtsregelungen für geduldete afghanische Geflüchtete stark machen.

Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban

In Afghanistan sind nach dem längsten NATO-Einsatz der Geschichte mit zwanzigjähriger Dauer seit August dieses Jahres die Taliban wieder an der Macht. Trotz entgegenstehender Bekundungen gehen diese wie bereits in den Jahren 1996 bis 2001 erneut unter anderem daran, Frauen zu unterdrücken, die Pressefreiheit massiv zu beschränken und die Volksgruppe der Hazara zu verfolgen. Zudem ist die wirtschaftliche Lage im Land katastrophal. Die Afghanistan-Beauftragte des UNO-Welternährungsprogramms (WFP), Mary-Ellen McGroarty prognostizierte bereits Anfang Oktober, dass es sich nur noch um Wochen handeln könne, bis die Ökonomie des Landes zusammenbreche. Auch im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird gewarnt, dass die schon durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden angespannte Wirtschaftslage in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps steht.


Rückkehr nach Afghanistan

Auffällig ist, das im aktuellen Lagebericht des AA das Kapitel »Rückkehrfragen«, in welchem sonst üblicherweise auf die Situation von Rückkehrern insbesondere auch aus dem westlichen Ausland und auf finanzielle und sonstige Rückkehrhilfen eingegangen wird, nonexistent ist. Finanzielle Rückkehrhilfen wurden in der Vergangenheit bei freiwilliger Rückkehr ausgezahlt. So erhielten etwa alleinstehende erwachsene Männer 3700,- € an Rückkehrhilfen aus den Programmen REAG/GARP und Starthilfe Plus. Manche Verwaltungsgerichte hielten Abschiebungen von jungen alleinstehenden Männern ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan nur angesichts dieser Rückkehrhilfen gerade noch für zulässig, so beispielsweise das Verwaltungsgericht Freiburg in einem Urteil vom 05. März 2021. Seit dem 17. August 2021 ist indessen die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf weiteres vollständig ausgesetzt. Hinzu kommt, dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Afghanistan schon vor deren Machtübernahme massiven Anfeindungen seitens der Taliban ausgesetzt waren. So wurden die Rückehrenden aufgrund der Flucht nach Europa und dem damit unterstellten »Überlaufen zum Feind« als Gegner verfolgt. Es traf sie der Vorwurf der Verwestlichung, von »unmoralischem« Verhalten in Europa, als auch der Apostasie, also dem Abfall vom muslimischen Glauben aufgrund der Assoziation mit Ungläubigen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann im Juni 2021. Die Gefahr derartiger Anfeindungen und darauf basierender Verfolgungen seitens der Taliban ist nach deren Machtübernahme um ein Vielfaches höher.

Faktisch sind Abschiebungen nach Afghanistan derzeit zwar ausgesetzt. Es bedarf aber angesichts der geschilderten dramatischen Lage gerade auch für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland aber eines offiziellen Abschiebestopps im Sinne von § 60a Abs. 1 AufenthG, um Ausreisepflichtigen Sicherheit zu vermitteln.

Bleiberechtsreglungen

Für die bereits länger in Deutschland lebenden etwa 30.000 afghanischen Staatsangehörigen, die in früheren Asylverfahren keinen Schutz zugesprochen bekommen haben und teils schon seit Jahren im prekären Status der Duldung leben, bedarf es darüber hinaus auch einer bleiberechtlichen Perspektive, da sich die Situation in absehbarer Zeit nicht zu verbessern vermag und der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet entsprechend von langer Dauer sein wird.

Eine bleiberechtliche Lösung sollte durch die Anwendung von § 23 Abs. 1 AufenthG erfolgen.
§ 60a Abs. 1 S. 2 AufenthG sieht vor, dass bei einem länger als sechs Monate währenden Zeitraum Abschiebungen nicht mehr nur über § 60a Abs. 1 AufenthG ausgesetzt werden sollen, sondern
§ 23 Abs. 1 AufenthG gilt. Bei bisherigen Abschiebestopps ist dieser vorgesehene gesetzliche Mechanismus nie zur Anwendung gekommen. Diesen gilt es aber zu nutzen, um zu vermeiden, dass Betroffene dauerhaft im Duldungsstatus verbleiben. Da jetzt bereits absehbar ist, dass sich die Situation in Afghanistan in den nächsten sechs Monaten nicht verbessern wird, forder wir die sofortige Anwendung von § 23 Abs. 1 AufenthG und die entsprechende Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen.  

Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt fordert von der Innenminister*innenkonferenz, einen Abschiebungsstopp gem. § 60a Abs. AufenthG und eine sofortige Anwendung von
§ 23 Abs. 1 AufenthG zu veranlassen.


Aufnahme von gefährdeten Afghan*innen durch Bundes- und Landesaufnahmeprogramme

Für gefährdete Personen, die nicht die engen Kriterien der Bundesregierung für eine Aufnahmezusage erfüllen, aber beispielsweise aufgrund ihrer Tätigkeiten nicht mehr sicher in Afghanistan leben können, braucht es ein Bundesaufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 2 AufenthG, wobei die Bundesländer diesen Prozess unterstützen sollten. Allen voran sind über ein solches Programm Personen zu berücksichtigen, die in der Vergangenheit für das Auswärtige Amt, das Bundesverteidigungsministerium, die GIZ oder andere deutsche Institutionen Dienste geleistet haben, aber nicht in einem unmittelbaren Angestelltenverhältnis zu diesen standen, sondern auf der Basis von Werkverträgen tätig oder bei Subunternehmen angestellt waren und deshalb im Rahmen des Aufnahmeprogramms für Ortskräfte keine Aufnahme gefunden haben. Die Taliban unterscheiden nicht, ob jemand direkt in einem Arbeitsverhältnis zu deutschen Institutionen stand oder „Mitarbeitender externer Dienstleister“ war, wie es in Ablehnungen auf Anträge für Aufnahmezusagen nach dem Aufnahmeprogramm für Ortskräfte heißt. Für sie ist entscheidend, dass Menschen für deutsche Organisationen Dienste ausgeübt haben. Aber auch gefährdete Menschenrechtler*innen, Journalist*innen, Künstler- und Sportler*innen sollten mit dem Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigt werden.

Bundes- und Landesaufnahmeprogramme schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind im Gegenteil auf Grund ihrer unterschiedlichen Zielrichtungen nebeneinander zu implementieren. Viele Afghanin*innen sind trotz Angehöriger in Deutschland vom Familiennachzug ausgeschlossen, etwa weil es sich um nicht mehr minderjährige Kinder handelt oder im Falle sogenannter sonstiger Familienangehöriger keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG zu konstatieren ist, für die Umstände, die sich aus den allgemeinen Lebensverhältnissen im Herkunftsland ergeben, nicht zählen. Für diese Familienangehörigen bedarf es – wie einst für Angehörige von syrischen Flüchtlingen – neben dem Bundesaufnahmeprogramm Landesaufnahmeprogramme nach § 23 Abs. 1 AufenthG aller 16 Bundesländer. Diese müssen auch den Nachzug von Angehörigen außerhalb der Kernfamilie ermöglichen. Fehler aus den bisherigen Programmen bezüglich unerfüllbarer Verpflichtungserklärungen dürfen sich dabei nicht wiederholen. Das Bundesinnenministerium darf sich der Etablierung von Landesaufnahmeprogrammen nicht verweigern, sondern muss jeweils das Erforderliche Einvernehmen nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG erklären.

Bislang werden afghanische Flüchtlinge, die zum Teil seit vielen Jahren unter prekären Bedingungen in den Nachbarländern Afghanistans leben, von Deutschland nicht für das UN-Resettlement-Programm berücksichtigt. In Anbetracht der Not in der Region müssen afghanische Flüchtlinge im Rahmen des Resettlement-Programms von allen Aufnahmeländern berücksichtigt und die Aufnahmequoten stark erhöht werden.

Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt fordert von der Innenminister*innenkonferenz, sich für Bundes- und Landesaufnahmeprogramme für Afghan*innen auszusprechen und entsprechende Absprachen zu treffen. Von den einzelnen Bundesländern forder wir gemeinsam mit PRO ASYL anschließend den Beschluss entsprechender Programme und vom Bundesinnenministerium das Einvernehmen zu erklären.

 



diesen Beitrag teilen