[Offener Brief] Offener Brief zu aktuellen Entwicklungen bzgl. Afghanistan

Magdeburg, 16.06.2021

Sehr geehrter Innenminister Richter,

schon zu Beginn des Monats haben wir Ihnen einen Offenen Brief bzgl. der Bleiberechtsreglungen von Afghan*innen in Sachsen-Anhalt gesendet. Wir möchten uns auf Grund aktuellster Entwicklungen und im Angesicht der Innenminister*innenkonferenz diese Woche erneut für eine Bleiberechtsregelung für geduldete afghanische Geflüchtete stark machen.

Unseres Erachtens ist eine robuste Bleiberechtsregelung für die nicht selten langjährig in Sachsen-Anhalt geduldeten afghanischen Geflüchteten schon allein mit Blick auf die von ihnen erbrachten vielfältigen und erfolgreichen Integrationsleistungen angezeigt. Darüber hinaus bestehen diesbezügliche Entscheidungsbedarfe allerdings auch eingedenk der sich mit zunehmender Dynamik prekär entwickelnden Sicherheitslage und drohender erheblicher Rückkehrrisiken in Afghanistan.

141 Angriffe der Taliban und anderer Aufständischer innerhalb von 24 Stunden im Mai, 570 getötete und 1.210 verletzte Zivilist*innen im ersten Quartal – so dramatisch war die Sicherheitslage in Afghanistan schon vor dem Abzug der NATO-Truppen und das sind nur die offiziell dokumentierten Zahlen. Es ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer weit höher ist. Mit dem am 1. Mai begonnenen Abzug der NATO-Turppen droht sich die Lage weiter zu verschärfen. Deswegen wenden wir uns im Vorfeld der IMK an Sie, da es dringenden Handlungsbedarf für einen Abschiebungsstopp, eine Bleiberechtsregelung und für einen schnellen und unbürokratischen Familiennachzug gibt.

Wegweisendes neues Urteil des EUGH verweist auf enorme Bedrohungslage

Der Europäische Gerichtshof hat am 10.06.2021 über die Voraussetzungen zur Gewährung subsidiären Schutzes entschieden. Die Richter*innen stellten fest: Allein das Verhältnis von zivilen Opfern zur Gesamtbevölkerung im Herkunftsland einer*s Geflüchteten kann kein entscheidender Ausgangspunkt sein, um ihm*ihr einen Schutzstatus zuzuerkennen oder ihm*ihr abzusprechen, dass er*sie Schutz benötigt. Es bedarf vielmehr einer quantitativen als auch qualitativen Gesamtwürdigung der Umstände.

Insbesondere afghanische Geflüchtete aus stark umkämpften Provinzen können vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH nun darauf hoffen, künftig subsidiären Schutz gewährt zu bekommen. Mit dem Urteil ist der Ansatz, der eine »ernsthafte individuelle Bedrohung« davon abhängig macht, ob das Verhältnis der Zahl ziviler Opfer zur Gesamtzahl der Bevölkerung des betreffenden Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht, nicht mit der EU-Richtlinie 2011/95 (= Qualifikationsrichtlinie) vereinbar.

Das Urteil des EuGH bedeutet eine zu vollziehende Kehrtwende für die Rechtspraxis der Bundesrepublik. Denn das Bundesverwaltungsgericht ist in seinen bisherigen Urteilen von einem rein quantitativen Ansatz ausgegangen, der als „body count“ bezeichnet werden kann: Ausgangsbasis ist hierbei, wie viele zivile Opfer es im Verhältnis zur Bevölkerung in einer Konfliktregion gibt. Wird dabei eine Mindestschwelle nicht erreicht, ist nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts die Gewährung von subsidiärem Schutz von vornherein ausgeschlossen. Andere Faktoren, die einen bewaffneten Konflikt neben der Zahl der Opfer so gefährlich machen könnten, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Schutzstatus gegeben wären, können dann gar nicht berücksichtigt werden. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht den zugrunde zu legenden Mindestwert nie exakt beziffert.1

Expert*innen des Afghanistan Analyst Networks sprechen von einem hohen Gefährdungspotential für die afghanische Zivilbevölkerung. Der jüngste verheerende Bombenanschlag auf eine Mädchenschule in Kabul muss in diesem Zusammenhang als Indiz für eine mit den zu erwartenden Machtkämpfen einhergehende besondere Bedrohung von Freiheit, Leib und Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan gewertet werden. US-Außenminister Antony Blinken äußerte gegenüber CNN ebenfalls die Befürchtung, das Land könne in einem Bürgerkrieg versinken und die erneute Machtübernahme durch die Taliban drohen.

Dramatische humanitäre Lage in Afghanistan

Auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan ist seit langem desaströs und hat sich durch die Covid-19-Pandemie noch weiter massiv verschlechtert. Laut dem stellvertretenden UN-Chef für humanitäre Hilfe hat sich die Zahl der Menschen in Not in Afghanistan von 9,4 Millionen Anfang 2020 auf 18,4 Millionen im Jahr 2021 verdoppelt – bei einer Bevölkerung von 40,4 Millionen. Im März 2021 befanden sich danach fast 17 Millionen Menschen in einer Krise oder einem Notstand der Ernährungssicherheit.

Grund für die EuGH-Entscheidung war ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus dem Jahr 2019. Dieser musste über die Klagen auf subsidiären Schutz von zwei afghanischen Staatsangehörigen entscheiden. Nach dem „body-count-Ansatz“ ist die Gewährung von subsidiärem Schutz auch für Afghan*innen ausgeschlossen. Weil der Verwaltungsgerichtshof im konkreten Fall anzweifelte, dass der body-count-Ansatz ausreiche, hat er den EuGH um Klärung gebeten.

Eskalierende Lage in Afghanistan – neue Studie bestätigt: Rückkehrer gefährdet

Die Anfang Juni veröffentliche Studie„Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“ von Diakonie und Brot für die Welt basiert auf mehrjähriger Forschung. Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann hat darin Erfahrungen von 113 der 908 Afghanen dokumentiert, die zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen wurden. Sie berücksichtigt noch nicht die sich täglich verschärfende Situation nach Bekanntgabe des Abzugs der westlichen Truppen sowie die Folgen der Coronapandemie.

Nahezu alle befragten Personen erlebten Gewalt und viele, weil sie nach Europa geflohen sind, dort gelebt haben oder abgeschoben wurden. Das bringt auch ihre Familien in Gefahr. legt nahe, dass es immer mehr Gründe gibt, die Richtigkeit der bisherigen Ablehnungs- und Abschiebungsentscheidungen anzuzweifeln und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Folgeanträge zu stellen. Der Vollzug von Abschiebungen basiert häufig auf lange zurückliegenden negativen BAMF-Entscheidungen. Doch nun liegen neue Gefährdungsgründe vor, die berücksichtigt werden müssen. Diese neuen Erkenntnisse müssen vom BAMF dringend einbezogen und die oft kurzfristig gestellten Folgeanträge sorgfältig geprüft werden.2
Das BMI hat laut ARD-Tagesschau auf die Studie und die Entwicklungen reagiert und formuliert, die Bundesregierung verfolge „die Entwicklung in Afghanistan sorgfältig. Wie sich der Abzug der internationalen Truppen auf die Lage im Einzelnen auswirken wird, kann allerdings derzeit noch nicht abgeschätzt werden.“

Abschiebestopp und Bleiberechtsregelung dringend erforderlich!

Wenn es selbst alleinstehenden gesunden jungen arbeitsfähigen Männern in Afghanistan nicht gelingen kann, ihre existenziellen Bedürfnisse (Brot, Bett, Seife) zu befriedigen, müssen Abschiebungen nach Afghanistan insgesamt unterbleiben. Dies muss auch angesichts der oben beschriebenen katastrophalen Sicherheitslage gelten, die sich – wie dargelegt – mit dem Abzug der NATO-Truppen verschärfen wird.

Vor diesem Hintergrund fordert der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt vom Land Sachsen-Anhalt und der Bundesregierung einen Abschiebestopp für Afghanistan gemäß 60 a) Abs. 1 AufenthG. Unter Berücksichtigung der zu erwartenden verschlechterten Sicherheitslage ist den Betroffenen nach Ablauf von sechs Monaten entsprechend § 60 a) Abs. 1 S. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu erteilen.

Über diesen Abschiebungsstopp hinaus muss es für die große Zahl ausreisepflichtiger Afghanen in Sachsen-Anhalt nachhaltige Lösungen geben. Die formalen Folgen einer Duldung sind nicht nur ein Leben in ständiger Angst, Perspektivlosigkeit und Armut, sondern auch geringere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Bildung und in der Steigerung persönlicher Potenziale. Letztlich sind dies auch verpasste Chancen für die Gesellschaft, in der diese Menschen leben. Mit Blick auf die gemeinsame gesellschaftliche Zukunft ist es geboten, diesen Menschen jetzt eine Lebensperspektive zu eröffnen und ihnen die in einem solchen Fall anstelle von Kettenduldungen gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.

Deshalb fordert der Flüchtlingsrat Sachsen-Anahal vom Land Sachsen-Anhalt und der Bundesregierung ein gesichertes Bleiberecht auch für Afghan*innen, die nur mit einer Duldung in Deutschland leben oder sich seit Jahren im Asylverfahren befinden.

Doch auch Familienangehörige, die sich nach wie vor in Afghanistan oder in benachbarten Transitstaaten unter den Bedingungen drohender Repatriierung aufhalten, müssen bedacht und in Sicherheit gebracht werden. Hierfür muss es auch schnelle und unbürokratische Verfahren im Inland bis hin zu den beteiligten Ausländerbehörden und den deutschen Auslandsvertretungen geben.

Deshalb fordert der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt das Land Sachsen-Anhalt und die Bundesregierung auf , den Familiennachzug aus Afghanistan oder benachbarten Transitstaaten zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen mit allen Mitteln zu beschleunigen und zu unterstützen.

Mit freundlichen Grüßen
Robert Fietzke
Vorstandsvorsitzender des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.



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