OVG Urteil: Abschiebung aus Unterkunft ist Durchsuchung und ohne richterliche Anordnung rechtswidrig

Zimmer in Flüchtlingsunterkünften sind Wohnraum, und Geflüchtete, die dort wohnen, genießen den gleichen Schutz durch Art. 13 GG wie alle anderen Menschen. Insbesondere dürfen Ausländerbehörden und Polizei den geschützten Wohnraum zum Zweck einer Abschiebung nur mit richterlichem Beschluss betreten. Das hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht in einem von fluchtpunkt, Rechtsanwalt Carsten Gericke und Rechtsanwalt Claudius Brenneisen (alle Hamburg) betreuten Verfahren am 18.8.2020 entschieden und damit die Berufung der Hansestadt Hamburg gegen ein gleichlautendes Urteil der ersten Instanz zurückgewiesen.

 

In den Urteilsgründen (Az. 4 Bf 160/19) stellt das OVG – entgegen teils anderslautender Urteile von Verwaltungsgerichten aus anderen Bundesländern – klar, dass die Unterscheidung, ob eine Maßnahme als „Durchsuchung“ oder bloßes „Betreten“ einzustufen ist, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ex ante und mit Blick auf den verfolgten Zweck der Maßnahme getroffen werden muss. Salopp gesagt: wer irgendwo hineingeht, um irgendwen herauszuholen, von dem er noch nicht wissen kann, ob er ihn antrifft, der führt eine Durchsuchung durch und bedarf vorab eines richterlichen Beschlusses.

 

In den Worten des Gerichts:

„Bei den beiden Zimmern der Kläger in der Wohnunterkunft handelt es sich um eine Wohnung i. Sinne von § 23 HmbVwVG. […] In den Tatbestand der Wohnung fallen alle privaten Wohnzwecken gewidmeten Räumlichkeiten, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden. […] Der Schutz des Art. 13 GG endete auch nicht mit dem Beginn der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht. Eine solche Betrachtungsweise würde die Ebene des Schutzbereichs eines Grundrechts mit der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines staatlichen Eingriffs vermischen. Die besonderen Anforderungen von Art. 13 Abs. 2 und 7 GG sollen gerade sicherstellen, dass der grundrechtliche Schutz der Wohnung auch während der Durchführung einer staatlichen Zwangsmaßnahme Geltung entfaltet.  […]

Für eine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts kennzeichnend.  […] Die Durchsuchung erschöpft sich nicht in einem Betreten der Wohnung, sondern umfasst als zweites Element die Vornahme von Handlungen in den Räumen. […] Eine Durchsuchung liegt daher nicht vor, wenn der Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung nicht über ein Betreten und das Besichtigen offenliegender Gegenstände hinausgeht, auch wenn der Inhaber der Wohnung diese lieber dem Blick entzogen hätte. […]

In Anwendung dieses Maßstabs stellt das Betreten einer Wohnung durch Behördenmitarbeiter, um dort Personen zum Zwecke der Abschiebung aufzufinden und zu ergreifen, eine Durchsuchung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG dar. Der Beklagten ging es – aus der ex ante Perspektive – im Streitfall nicht darum die Wohnung der Kläger zu betreten und zu besichtigen […], sondern gezielt darum, die Kläger aufzufinden. […] Die Feststellung, dass sich die Kläger in der Wohnung befanden, geschah nicht nur „nebenbei“ in Ausübung eines anderen Zwecken dienenden behördlichen Besichtigungs- und Betretungsrechts, sondern war das unmittelbare und einzige Ziel der Maßnahme.

Zwar meint die Beklagte, ihre Maßnahme reihe sich in die bereits höchstrichterlich entschiedenen Fälle des bloßen Betretens ein, weil auch ihre Maßnahme sich dadurch ausgezeichnet habe, dass allein das Hineingelangen in die Wohnung zur Zweckerreichung ausreichend gewesen sei. Abgesehen davon, dass zu Beginn der Maßnahme nicht absehbar war, welcher Aufwand innerhalb der Wohnung betrieben werden musste, um die Kläger zu finden, verkennt die Beklagte dabei, dass das bloße Betreten der Wohnung der Kläger zur Zweckerreichung, nämlich der Abschiebung, gerade nicht ausreichte. […]

Folgte man der Ansicht der Beklagten, dass von einem Durchsuchen nicht gesprochen werden kann, wenn die fraglichen Personen sich nicht verborgen halten, […] hinge es letztlich von Zufällen wie der Größe oder er Überschaubarkeit einer Wohnung oder dem konkreten Aufenthaltsort der Personen innerhalb der Wohnung ab, ob eine Durchsuchung – die dann ggf. mangels richterlicher Anordnung abgebrochen werden müsste – oder ein Betreten vorliegt. […] Dies widerspräche dem Sinn und Zweck von Art. 13 Abs. 2 GG, der auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz abzielt“ (OVG Hamburg, Urt. v. 18.8.2020, Az. 4 Bf 160/19, m. zahlr. w. N.).

 

Die Entscheidung bezieht sich auf die Rechtslage vor Inkrafttreten des „Hau-Ab-Gesetzes II“ (beschönigend „2. Gesetz zur verbesserten Durchsetzung der Ausreisepflicht“ genannt). Sie dürfte aber auch Auswirkungen auf die Auslegung der mit diesem Gesetz neu geschaffenen bundesrechtlichen Rechtsgrundlage für ein „Betreten zum Zweck der Ergreifung“ haben (§ 58 Abs. 5 AufenthG). Ein solches „Betreten zum Zweck…“ ist mit den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Art. 13 GG schwerlich zu vereinbaren.  Es stellt sich daher die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Norm bzw. ggf. ihrer verfassungskonformen Reduktion.

 

Das Oberverwaltungsgericht hat keine Revision zugelassen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.



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