PM | Ohne Perspektive kann man sich nicht sicher fühlen
Presseerklärung. Halle (Saale), 24.04.2020
Ohne Perspektive kann man sich nicht sicher fühlen.
Im Zuge der weltweiten CoViD-19 Pandemie wurden in Sachsen-Anhalt mehrere Sammelunterbringungen für Geflüchtete Quarantänemaßnahmen unterzogen. Nicht zuletzt die Zustände in der ZASt in Halberstadt haben dabei zu weitreichendem Unverständnis und Besorgnis geführt. Nach mittlerweile einem Monat der Quarantänesituation zieht der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt ein vorläufiges Resümee über das System der Sammelunterbringungen, dessen medizinischen und psychosoziale Gefahren sowie die Rolle der Landesregierung.
Der Flüchtlingsrat stellt dabei folgende Punkte fest:
- Die Probleme in allen Sammelunterbringungen folgen direkt aus einem System der Entmündigung und Einschränkung. Sie sind Symptome einer »Lagerlogik« und keine zufälligen Erscheinungen.
- Infektionsschutz und psychosoziale Betreuung vorerkrankter Personen können in Sammelunterbringungen nicht im nötigen Umfang geleistet werden.
- »Ausreichende Versorgung« umfasst Lebensmittel, Hygieneartikel, aber auch Informationen und Kommunikation. In allen Bereichen waren folgenreiche Mängel zu verzeichnen.
- Indem sich die Landesregierung weigert, schutzsuchende Menschen dezentralisiert unterzubringen, wird eine humanitäre Krise im eigenen Bundesland in Kauf genommen und geflüchtete wie nicht-geflüchtete Menschen gleichermaßen gefährdet.
Das System »Lager« – Entmündigung als Dauerzustand
»Wir haben hier keine Rechte. So wie wir hier gerade leben, können wir nichts tun, und wir können uns auch an niemanden wenden. Es ist sehr, sehr frustrierend. Wir leben in ständiger Panik vor Ansteckung und werden durch die Situation traumatisiert.« (Herr K.*, Bewohner der ZASt Halberstadt)
Die Unterbringung von Schutzsuchenden in Massenunterkünften wird von NGOs, Beratungsstellen und Wohlfahrtsverbänden schon immer kritisiert. Erklärtes Ziel der Lager ist die Verhinderung von Integration sowie die Erleichterung von Abschiebungen. Die Lagerlogik lautet: Ausschluss und Entmündigung.
»Während der Großteil der Bevölkerung die eigenen Kontakte freiwillig beschränken kann und sogar eine amtlich angeordnete Quarantäne noch selbst ausgestalten können, werden Geflüchtete in Lagern komplett entmündigt. Sie haben keine Möglichkeit der Mitgestaltung, sind auf die Unterstützung von außen angewiesen und werden somit zu Menschen zweiter Klasse degradiert.«, erklärt Georg Schütze vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt.
Aus dem strukturellen Ausnahmezustand der Lebensbedingungen in Lagern wird die konkrete Krise – die Versorgungsnotstände und Kommunikationsdefizite, wie sie u.a. in Halberstadt während den ersten Quarantänewochen auftraten, waren vorhersehbar und die logische Konsequenz solcher Lager.
Den Bewohnern der ZASt und zahlreicher anderer Massenunterbringungen im Land werden weder selbstbestimmte Tages- oder gar Lebensgestaltung noch ausreichende verständliche Informationen zugestanden. »Wer mehreren hundert Menschen die Möglichkeit nimmt, gut für sich selbst zu sorgen, muss diese Versorgung mit großem Aufwand nachholen – oder ihre Vernachlässigung in Kauf nehmen. Deswegen wird die Krise der letzten Wochen nicht die letzte sein.«
Infektionsschutz in Massenunterkünften ist unmöglich
Die existentielle Prekarität solcher Zwangssysteme zeigt sich derzeit besonders in Unterkünften, die auf Grund nachgewiesener Coronafälle unter Quarantäne gestellt wurden. Sowohl in der extra eingerichteten Quarantäneeinrichtung in Quedlinburg, der ZASt in Halberstadt, oder in Gemeinschaftsunterkünften wie Krumpa, Halle-Huttenstraße oder Laucha herrschen Perspektivlosigkeit, Unsicherheit und Angst.
Massenunterkünfte vertragen sich allein räumlich nicht mit effektivem Infektionsschutz. Bewohner*innen leben auf engstem Raum, unter schlechten Versorgungsbedingungen und in dauerhafter Isolation. Gemeinschaftsküchen, geteilte Sanitäranlagen, Mehrbettzimmer und Ausgangssperren verunmöglichen den individuellen Schutz vor Infektion und somit eine Entspannung der Situation. Social distancing ist unter solchen Bedingungen schlicht nicht möglich und eine Durchseuchung der Einrichtungen wird somit in Kauf genommen.
»Ich glaube, dass die Leute [die Geflüchteten] hier versuchen, ihr Bestes zu tun. Aber das hilft nichts: Für die Essensausgabe müssen wir trotzdem alle in einer Schlange stehen, die Toiletten und Duschen benutzen wir alle und können deshalb die Distanz nicht einhalten. Es kann hier einfach nicht funktionieren.« (Herr E.*, Bewohner der ZASt Halberstadt)
Seit Beginn der Quarantänevorkehrungen ist die Informationslage in den beispielhaft genannten Unterkünften desaströs. Herr K.* erklärt: »Unser größtes Problem gerade ist, dass wir einfach überhaupt keine Informationen kriegen. Was passiert hier gerade, wie lange dauert das noch? Wir wissen einfach nichts, es ist sehr frustrierend. Vor allem wissen wir nicht, wie lange das noch so weitergehen soll.«
Abwärtsspirale: Quarantäne und psychische Vorerkrankungen
Die Gemengelage von Unterversorgung, mangelnder Selbstwirksamkeit und Partizipationsmöglichkeiten führt zu einer massiven psychischen Belastung der Bewohner*innen. »Natürlich sind wir dankbar, dass alle hier getestet werden, aber es macht uns auch große Angst. Es ist eine sehr ernste Lage. Ich glaube, hier wird ein Desaster passieren«, erklärt Herr K*.
Frau M.*, Mutter von zwei Kindern, erzählte während der Kohortierungsmaßnahmen: »Die Kinder haben nichts zu tun und dürfen auch nicht wirklich aus dem Gebäude rausgehen. Wir können ihnen auch nicht erlauben, im Flur zu spielen, weil die Ansteckungsgefahr zu groß ist. Sie sitzen die ganze Zeit im Zimmer, haben nichts, um sich zu beschäftigen. Sie sitzen am Fenster, gucken in den Hof und fragen mich: Mama, bis wann dürfen wir nicht raus gehen? Und ich habe keine Antwort.«
Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.) macht auf die psychosozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie für Geflüchtete aufmerksam. In Zeiten großer Unsicherheit und Angst sei es umso mehr geboten, die prekäre Lebenssituation geflüchteter Menschen zu beachten. Sie betonen: »Eine kollektive Quarantäne unter polizeilicher Bewachung ganzer Unterkünfte kann für Menschen mit Traumafolgestörungen dazu führen, dass sie durch die verstärkten Reglementierungen und Freiheitseinschränkungen getriggert werden und sich ihr psychischer Zustand deutlich verschlechtert.« Mit der freien Bewegung werden auch die Möglichkeiten des Ausgleichs und der Stabilisierung eingeschränkt. Die Anspannung nimmt zu, was sich wiederum auf andere Bewohner*innen überträgt und auf die traumatisierten Personen zurückschlagen kann.
Sehenden Auges in die Krise
Was in den letzten Wochen zu beobachten war, muss als Überforderung und Perspektivlosigkeit seitens der zuständigen Behörden gedeutet werden. Dass zu Beginn einer solchen Ausnahmesituation wie der CoViD-19-Pandemie kein klares Konzept vorliegt, ist nachvollziehbar. Doch es wird zunehmend klarer, dass immer noch keine humanitäre und menschenrechtliche tragbare Strategie vorliegt, wie die Regierung gedenkt, gegen die Verbreitung des Virus in den Gemeinschaftsunterkünften des Landes vorzugehen. Erst am 30.04. – also knapp fünf Wochen nach Beginn der Quarantänemaßnahmen in der ZASt – legt das Innenministerium erstmals ein Konzept zur Erstaufnahme und Unterbringung für die kommende Zeit vor.
Die Siracusa-Prinzipien über Beschränkungs- und Ausnahmeregeln geben einen strengen Rahmen vor, der auch auf Quarantänezustände anwendbar ist. Darin sind besonders hohe Anforderungen an humanitäre Versorgung gestellt. »Wer im Ausnahmezustand bloß das Notwendigste tut, tut viel zu wenig. Ein kalorisches Mindestmaß in der Essenskalkulation anzusetzen ist ein Beispiel für solche gefährliche Technokratie. Auch die kommunikative Vernachlässigung, die wieder und wieder von den Lagerbewohner*innen geschildert und bemängelt wurde, zeigt eine klare Verletzung der Fürsorgepflicht an«.
So lange Maßnahmen zur Entzerrung und schließlich auch Dezentralisierung der Unterbringungen nicht erwogen werden, sind Bewohner*innen gefährdet. Sachsen-Anhalt hat etwa 1300 Corona-Fälle, knapp unter 10% davon in den Sammelunterkünften für Geflüchtete. »Ob absichtlich oder nicht, die Landesregierung hält Kurs auf die Strategie der Durchseuchung. Es müssen sich alle Bewohner*innen der Gemeinschaftsunterkünfte anstecken, bis die Maßnahmen gelockert und werden können. Diese Vorgehensweise ist zynisch und unmenschlich!« so Schütze vom Flüchtlingsrat.
*Die zitierten Bewohner*innen der Massenunterkünfte wurden anonymisiert, um potentielle Repressionen zu vermeiden.
Pressekontakt:
Georg Schütze | Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt |
mail: georg.schuetze@fluechtlingsrat-lsa.de | mobil: 0159 06 72 51 50