Offener Brief: Keine Erweiterung der Liste der »sicheren Herkunftsstaaten«

In einem Offenen Brief hat sich der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt an die Mitglieder des Bundesrates bzw. der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gewandt mit dem Appell, einer Ausweitung der Liste der »sicheren Herkunftsstaaten« im Bundesrat nicht zuzustimmen.

Für die Zustimmung des Bundesrates sind die Stimmen von mindestens zwei Bundesländern erforderlich, in denen Bündnis 90/Die Grünen mit regieren. Sachsen-Anhalts Grüne haben bereits erklärt, dass sie eine Ausweitung der »sicheren Herkunftsstaaten« aus humanitären Gründen ablehnen.

Mit dem Offenen Brief begründet der Flüchtlingsrat, warum Sachsen-Anhalt der Ausweitung eine klare Absage erteilen sollte. Er bekräftigt außerdem, dem Antrag der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt – auch Syrien in die Liste der »sicheren Herkunftsländer« aufzunehmen – eine klare Position entgegen zu setzen. Der Antrag entbehrt jeglicher Grundlage und Sachkenntnis.

 

Der Offene Brief im Wortlaut:

An die Mitglieder des Bundesrates aus Sachsen-Anhalt

An die Fraktionsvorsitzenden und migrationspolitischen Sprecher*innen
von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

 
Magdeburg, 28.08.2018

Offener Brief: Keine Erweiterung der Liste der »sicheren Herkunftsstaaten«

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 18.07.2018 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Einstufung von Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien als »sichere Herkunftsstaaten« verabschiedet. Da die Verabschiedung dieses Gesetzesvorhabens letztlich von der Zustimmung des Bundesrats abhängen wird, kommen wir mit unserem Anliegen auf Sie zu.

Wir müssen uns die Vorbemerkung erlauben, dass wir das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich ablehnen. Wir sehen darin eine massive Aushöhlung des Grund- und Menschenrechts auf Asyl sowie des individuellen Rechts auf eine unvoreingenommene und herkunftslandunabhängige Prüfung der Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern.

Eine pauschale Einstufung der vier genannten Länder als »sichere Herkunftsstaaten« und die damit einhergehende Regelannahme, dass dort keine Verfolgung, Diskriminierung oder Unterdrückung stattfänden, ist aufgrund der realen Situation vor Ort nicht gerechtfertigt. Nachweislich werden Menschen dort weiterhin aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder politischen Überzeugung diskriminiert und verfolgt. Darüber hinaus gibt es fundierte Indizien für die Anwendung von Folter und die Praxis des Menschenhandels.

Aus mehreren Gründen widerspräche eine Einstufung dieser Länder als »sichere Herkunftsstaaten« damit den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil am 14.05.1996 definiert hat. Danach muss in »sicheren Herkunftsstaaten« landesweit und für alle Personen und Bevölkerungsgruppen die Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährleistet sein und es darf keine Folter oder unmenschliche Behandlung oder Bestrafung drohen.

Zudem widerlegen die signifikant hohen bereinigten Schutzquoten des ersten Quartals 2018 die Annahme, es handele sich a priori um sichere Länder. So lag die Anerkennungsquote für Marokko bei 10,2 %, für Algerien bei 6,8 %, für Tunesien bei 5,5 % und für Georgien bei 2,9 %. Damit liegt die Anerkennungsquote für drei der vier vorgesehen Staaten eindeutig über der 5%-Hürde aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, die zudem regelmäßig unterschritten werden müsse, damit eine (politische) Grundlage für eine Einstufung als sicheres Herkunftsland angenommen werden könne. Darüber hinaus handelt es sich zahlenmäßig um eine insgesamt überschaubare Gruppe: Aus den vier Staaten kamen von Januar bis Juni 2018 bundesweit nur knapp 5 % aller Schutzsuchenden.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die öffentlichen Stellungnahmen sowohl der Grünen-Bundestagsfraktion als auch der Fraktionen der Grünen aus jenen Bundesländern, in denen eine grüne Regierungsbeteiligung besteht, u.a. Sachsen-Anhalt, die – mit Ausnahme von Baden-Württemberg – bereits erklärt haben, dem Gesetzentwurf in Bundestag und Bundesrat u. a. aus oben dargestellten Gründen nicht zuzustimmen.

Wir appellieren daher an Sie als Mitglied des Bundesrates bzw. der Landesregierung in Sachsen-Anhalt, dem Vorhaben zur Einstufung der Maghreb-Staaten und Georgiens als »sichere Herkunftsstaaten« eine klare Absage zu erteilen und folglich eine Zustimmung Sachsen-Anhalts im Bundesrat zu verhindern.

Der Antrag der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt, auch Syrien in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufzunehmen, entbehrt jeglicher Grundlage und Sachkenntnis. Leider ist damit das eingetreten, was zu befürchten war: Die AfD schließt sich den Äußerungen von Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff nach konsequenten Abschiebungen, auch in das Bürgerkriegsland Syrien an und übernimmt die gefährlichen Leerstellen bei der Darstellung der Anerkennungsquoten von Schutzsuchenden. In unserer Pressemitteilung vom 31.07.2018, die wir Ihnen zur Kenntnisnahme beifügen, haben wir zu diesem Thema ausführlicher Stellung genommen. Wir sind überzeugt, dass Sie dem Antrag der AfD eine klare Position entgegen setzen werden.

Für weitere Hintergrundinformationen erlauben wir uns außerdem, Ihnen die Stellungnahme von PRO ASYl zum Gesetzentwurf zur Einstufung von Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien als »sichere Herkunftsstaaten« beizufügen.

Für Gespräche stehen wir gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt

ANLAGEN:
– Pressemitteilung des Flüchtlingsrates vom 31.07.2018
– Stellungnahme von PRO ASYL vom 12.07.2018

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